• Interdisziplinäres Forschungsteam entschlüsselt mithilfe historischer Sammlung erstmals die genetische Vielfalt der Europäischen Auster

      Vor rund 150 Jahren war die Europäische Auster Ostrea edulis an den europäischen Küsten eine noch weit verbreitete Delikatesse. Mittlerweile ist sie vom Aussterben bedroht, in der Nordsee kommt sie bereits seit den 1930er nicht mehr vor. Schuld sei die industrielle Überfischung, so die bisherige Annahme. Für das Aussterben in der Nordsee vermuten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Zoologischen Museums und des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) jedoch noch einen anderen Grund: An die extremen Lebensbedingungen des Wattenmeeres habe sich diese Austernart so gut angepasst, dass sie auf äußere Veränderungen nicht mehr reagieren konnte. Das legen DNA-Analysen von Austernschalen nahe, mit denen die Forschenden jetzt erstmals die historische Verbreitung und die genetische Vielfalt der Europäischen Auster nachweisen konnten. Grundlage der Studie, die kürzlich im Fachmagazin Scientific Reports erschien, ist die einzigartige Sammlung von Austernschalen des Zoologischen Museums Kiel. Die Erkenntnisse könnten auch für aktuelle Programme zur Wiederansiedelung der Europäischen Auster wichtig sein.

      Gerne gegessen und viel gefischt galt die Europäische Auster im 19. Jahrhundert als ein großer Wirtschaftsfaktor für die Norddeutsche Region. Um ihre Besiedelung in den flachen Küstengewässern weiter zu fördern, beauftragte 1868 die preußische Regierung den Kieler Zoologie-Professor Karl August Möbius damit, die Muschelart näher zu untersuchen. Dazu legte er eine umfangreiche Sammlung von Austernschalen an, die schließlich rund tausend Exemplare von der Nordsee über die atlantische Küste bis zum Mittelmeer umfasste. Seine Untersuchungen, wie sich Austern in wechselseitiger Abhängigkeit mit anderen Tieren und Pflanzen in ihrem Lebensraum entwickeln, machte Möbius zum Begründer der modernen Ökologie.

      Welche Bedeutung Möbius‘ Austernsammlung für aktuelle Forschungsfragen zur Biodiversität hat, unterstreicht die neue Studie der Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. „Die sorgfältig dokumentierte Sammlung bietet einzigartiges Forschungsmaterial, gerade auch für moderne wissenschaftliche Methoden“, betont Dr. Dirk Brandis, Leiter des Zoologischen Museums und Privatdozent an der CAU. Als eines der ersten Museen überhaupt untersuchte es historische Sammlungen im Hinblick auf ihre genetischen Informationen. „Dank der richtigen Lagerung, des umfangreichen Materials und der Erfahrung des IKMB, mit dem wir bei der Genanalyse zusammengearbeitet haben, konnten wir damit den Verwandtschaftsverhältnissen der Europäischen Auster auf die Spur kommen“, sagt Meeresbiologin Sarah Hayer, Erstautorin der Studie und Doktorandin bei Brandis am Zoologischen Museum.

      Überraschende regionale Unterschiede im Erbgut

      „Solche historischen Gensequenzierungen sind sehr aufwendig, weil sich über die Jahre oft schon ein Großteil der DNA zersetzt hat. Hier konnten wir aber erstaunlich gute Ergebnisse erzielen“, ergänzt Professor Ben Krause-Kyora, Leiter des Labors für alte DNA-Analysen am IKMB. So war das Forschungsteam überrascht, wie sehr sich die untersuchten Austern aus den einzelnen Regionen genetisch unterscheiden. „Denn normalerweise sorgt die Meeresströmung in Küstenregionen für Austausch unter den Populationen, ihr genetisches Bild hätte also relativ ähnlich sein müssen“, erklärt die Marine Populationsgenetikerin Dr. Christine Ewers-Saucedo vom Zoologischen Museum, Leiterin der Studie.

      Vor allem die Austernexemplare, die ursprünglich im Wattenmeer heimisch waren, unterscheiden sich genetisch deutlich von denen aus anderen Verbreitungsgebieten, so ein Ergebnis der Studie. Für das Forschungsteam ist das ein Indiz dafür, wie gut sich die Europäische Auster im Laufe der Zeit an die extremen Lebensbedingungen im Wattenmeer mit stark schwankenden Wasserständen, Temperaturen und Salzgehalten angepasst hat. Sie vermuten, dass ihr ausgerechnet das zum Verhängnis wurde. Auf klimatische Veränderungen und neue Krankheitserreger konnte sie anscheinend nicht mehr flexibel reagieren und starb im Wattenmeer, befördert durch die starke Überfischung, in den 1930er Jahren schließlich aus. „Dafür spricht auch, dass dort spätere Ansiedelungsversuche aus anderen Gebieten Europas nicht erfolgreich waren – diese Austern hatten nicht die passenden genetischen Voraussetzungen“, so Ewers-Saucedo.

      Bei aktuellen Wiederansiedlungsprojekten auch genetische Faktoren beachten

      Möbius‘ Austernsammlung erlaubt nicht nur einen außergewöhnlichen Blick in die Vergangenheit, sondern liefert auch Erkenntnisse für aktuelle Wiederansiedlungsprojekte. „Austernbänke bieten einzigartige Lebensräume und festigen zum Beispiel loses Sediment oder verlangsamen die Strömung“, unterstreicht Ewers-Saucedo die Bedeutung der Auster für maritime Ökosysteme. Soll die Europäische Auster im Wattenmeer wieder angesiedelt werden, müssten auch genetische Faktoren beachtet werden, so die Empfehlung des Forschungsteams.

      „Mit der Entschlüsselung der genetischen Vielfalt der Europäischen Auster zeigt diese Studie den einzigartigen wissenschaftlichen Wert von musealen Naturkundesammlungen“, so Brandis. Wie in Museen mithilfe von Sammlungen geforscht wird, soll in Kürze eine Ausstellung zeigen, die er und das Team des Zoologischen Museums zurzeit vorbereiten. Auch Exemplare aus Möbius‘ Austernsammlung werden hier zu sehen sein.

      Die Studie wurde durch den Kieler Exzellenzcluster ROOTS “Konnektivität von Gesellschaft, Umwelt und Kultur in vergangenen Welten” unterstützt, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Sie entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Historische Sammlungen mariner Organismen – ein Fenster in die Anfänge von Global Change in Nord- und Ostsee“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Neben dem Zoologischen Museum und dem Labor für alte DNA Analysen der CAU sind auch die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, das Deutsche Primatenzentrum und der Verbund der deutschen Nord- und Ostseesammlungen (NORe e.V.) an dem Verbundprojekt beteiligt.

      Quelle: https://www.uni-kiel.de/

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